Vorbemerkung

 

Die nachfolgenden Episoden entstammen dem literarischen Universum der Buchreihe »Wege in die Hölle«. In dieser Welt hat ein mutiertes,  hochansteckendes Tollwutvirus die Welt in den Kollaps gestürzt. Jene, die die Erkrankung überleben, fallen zeitweilig in einen regelrechten Blutrausch, in dem sie die Kontrolle über ihr Verhalten verlieren.

Die Kurzgeschichten, oder besser: Miniaturen, behandeln Schicksale von Menschen, die versuchen (mehr oder weniger erfolgreich), in dieser Welt zu überleben. Es sind knappe Einblicke, es sind »Fragmente aus der Hölle«.

 

 

JD Alexander 2022

 

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JD Alexander

 

»Fragmente« aus der Hölle

 

Adnan Basitsch hatte sich eine Waffe besorgt. Sogar dazu passende Munition. Damit, da war er sich sicher, würde alles einfacher. Er atmete erleichtert aus, verließ das fast vollständig geplünderte Jagdgeschäft und machte sich vorsichtig auf den Weg zurück zu seinem Unterschlupf, wo seine Frau und ihre kleine Tochter auf ihn warteten. Als er durch einen verlassenen Hinterhof schlich – er hatte gelernt, die Straßen zu meiden, denn zu viel Aufmerksamkeit war nicht gut – kam er an einem unter dem Vordach eines Gartenhauses hängenden Boxsack vorbei. Darauf die Umrisse eines Mittelgewichtsboxers. Es erinnerte ihn an einen Schießstand. Adnan Basitsch hielt es für eine gute Idee, das Gewehr auszuprobieren. Für den Ernstfall. Er brauchte einige Zeit, bis er es inmitten des vollgerümpelten Hinterhofs geladen hatte. Der erste und einzige Schuss, den er abgab, warf ihn unterwartet heftig zurück. Mit einem Rückstoß hatte er nicht gerechnet. Er knallte gegen einen Gartentisch aus Marmor. Der erste und zweite Lendenwirbel wurden an der Tischkannte zertrümmert und Adnan starb zweieinhalb Stunden später. Seine Tochter erlebte ihren Geburtstag nicht. Adnan hatte den einzigen Schlüssel zu dem fensterlosen Keller, in dem sie sich versteckten, bei sich.

 

*

 

Vom Schreiben konnte Phillip Drozd erst seit wenigen Monaten leben. Er verdingte sich als Autor von Zombiegeschichten und Pandemiethrillern. Dass es ausgerechnet ihn so unvorbereitet getroffen hatte, erlebte er als besondere Ironie des Schicksals. Er hatte nicht einmal die Mindestrationen der vom Zivilschutzverband empfohlenen Vorräte zu Hause. Vier Tage nachdem das Wasser weggeblieben war und die eineinhalb Liter Milch sowie die Flasche Apfelsaft aus dem toten Kühlschrank aufgebraucht waren, hatte er den Durst nicht mehr ertragen und begonnen, das Wasser aus seinem Aquarium zu trinken, in dem die Fische ohne Hilfe der elektrischen Umwälzpumpe allmählich erstickten. Denn draußen, das konnte er aus dem dritten Stock, in dem seine Altbauwohnung in Kreuzberg lag, deutlich sehen, lauerte das Chaos und der wild brüllende Tot. Phillip Drozd starb allerdings nicht an der Lebensmittelvergiftung, die das brackige Aquariumswasser ihm bescherte. Sondern an dem Aufprall, nachdem er in Panik vor eindringenden Plünderern aus dem Fenster gesprungen war.

 

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Hannes Frank aus Deggendorf hatte schon vor Jahren gelernt mit seinem Typ-2-Diabetes zu leben. Der pensionierte Sonnenschutztechniker hatte den Nachbarsjungen, der nach dem Ausbruch des Virus und dem gewaltsamen Tod seiner Eltern bei ihm untergekommen war, losgeschickt. Der Bursche war fast volljährig und wusste sich zu bewegen. Frank hatte sich gute Chancen ausgerechnet, dass der Junge bald mit dem nötigen Insulin aus der Apotheke zurückkehren würde. Aber das tat er nicht.

 

Sechs Tage wartete Frank vergeblich. Am siebten Tag, dem zweiten ohne Medikamente, stürzte der Rentner über seine Veranda auf die Straße und stolperte in das Dorf. Sein Blutzuckerwert war inzwischen so niedrig, dass er kaum mehr aufrecht stehen geschweige denn gehen konnte. Er sah nur noch schemenhaft und brabbelte aggressive Laute vor sich hin, während er versuchte mit den Händen eingebildete Schemen vor seinen Augen wegzuwischen. Auf Höhe der örtlichen Volksschule schoss eine verängstigte Jungmutter mit dem Jagdgewehr ihres toten Mannes ein Loch in Franks Brust. Sie hatte ihn für einen Infizierten gehalten, als er auf sie zu gestolpert kam. Er brach zweihundert Meter vor der Apotheke zusammen.

 

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Es war Arthur Beck kein Rätsel, wie er es geschafft hatte, sich nicht anzustecken. Vier Monate vor Ausbruch des Virus war er für den Assistenzarztposten extra in diese Stadt gezogen. Er hatte eine Ein-Zimmer-Wohnung im siebten Stock eines alten Hochhauses gegenüber des Krankenhauses bezogen, das extra für Krankenhauspersonal reserviert war. Fast eine Wochen lang hatte er rund um die Uhr in der Notaufnahme gearbeitet, als rundherum alles zusammen gebrochen war.

 

Dann war er nach Hause und hatte sich endlich hingelegt. Als er aufwachte, gab es kein Krankenhaus mehr, zu dem er zurückkehren hätte können. Oder zumindest keine Patienten. Also wollte Arthur Beck seine Abreise vorbereiten. Dafür musste er sich aber um Proviant, einen fahrbaren Untersatz und Verteidigungsmöglichkeiten umsehen. Er würde durch das halbe Land reißen, um zu seiner Familie zurückzukehren. Das brauchte eine ordentliche Vorbereitung. Nachdem der Strom und damit die Heizung weggeblieben waren, musste er aber zuerst einmal für Wärme sorgen, wenn er in der kommenden Nacht nicht erfrieren wollte. Er hatte seinen Herdofen umfunktioniert und behelfsmäßig einen Abluftschlauch aus seinem Dungstabzug angebracht. Das ging ein paar Nächte gut. Aber irgendwann rutschte der Abluftschlauch ab, das Feuer griff über und Arthur Beck verbrannte gemeinsam mit den zwölf Stockwerken des Hochhauses gegenüber der Klinik.

 

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Wochenlang hatten Carmen und Mile Stanic überlebt. In ihrem Wohnblock in Passau war es ruhiger geworden. Keine Schreie, kein Gebrüll in der Nacht, kein Poltern und Rumpeln in den Nachbarwohnungen mehr. Als sie sich hinaus wagten um Vorräte zu beschaffen, kamen sie erstaunlich schnell über das unsägliche Maß der Zerstörung hinweg, welche in dem Wohnblock getobt haben musste.

 

Sie verkrafteten es, die aufgerissenen Leichname, die eingeschlagenen Türen, das blutverschmierte Treppenhaus und die über alle Stockwerke verstreuten Möbel und Kleiderfetzen zu sehen. Die Kranken hatten entsetzlich gewütet. Aber jetzt waren alle tot. All das verkraftete das Ehepaar Stanic, weil sie einander hatten. Sie versorgten sich mit dem Nötigsten und verließen nur selten ihre vier Wände. Harrten aus. Und sie steckten sich nicht mit dem Virus an. Nein. Mile starb an der Ruhr, die sich zwischen all den offen verwesenden Leichen am ganzen Kontinent ausbreitete. Carmen überlebte sie, erlitt aber aufgrund der mangelnden Medikation mehrere Folgekrankheiten. Die schrecklichen Harnwegsinfekte und Gelenksentzündungen hätte sie noch ertragen. Als die als Reiter-Syndrom bezeichnete Krankheit aber ihre Iris entzündete und die Sehkraft zerstörte, war es ein einfacher, liegengelassener Koffer, über den sie im Treppenhaus stolperte und der ihr das Genick brach.

 

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