Auszug aus: Wege in die Hölle. Kollaps

 

 

Es war Montag. Daniel hatte sich am Vortag um halb zwölf gezwungen den PC herunterzufahren und ins Bett zu legen. Wegen seines verdrehten Tag-Nacht-Rhythmus war er vier Stunden im Dunkeln gelegen, ehe er eingeschlafen war. Nicht einmal Lesen hatte geholfen. Schließlich hatte er den einzigen Kurs, den er an diesem Tag gehabt hatte, verschlafen und war gegen vier zu Peter aufgebrochen. Dieser veranstaltete eine Pen&Paper-Runde mit zwei Freunden. Man traf sich ein, zwei Mal im Monat, saß im Kreis und spielte ein Rollenspiel. Es war einer der wenigen Fixtermine in Daniels realem sozialen Leben. Diesmal war es aber anders. Einer hatte eine Eineinhalbliterflasche Stolichnaya-Wodka mitgebracht. Man müsse schließlich den Semesterstart feiern. Es war Daniel nicht unbedingt nach Trinken, aber andererseits sprach nichts dagegen. Tags darauf, am Dienstag, würde er keinen Kurs haben. Die meisten starteten ohnehin erst nächste Woche. Und als eine Bekannte von Peter dazu kam, die sich das ganze mal anschauen wollte, brachen alle Dämme. Es handelte sich um Bianca, eine Studentin, die Daniel vor ein paar Wochen kennengelernt hatte und in die er sich hoffnungslos verknallt hatte. Er besoff sich in einer Mischung aus Aufregung und Unsicherheit, bis er kotzen musste. Um halb zwei Uhr morgens ließ er es sich nicht nehmen, sie nach Hause zu begleiten, immerhin wohnte sie nur zehn Gehminuten von ihm entfernt, wie er im Gespräch herausgefunden hatte. Tatsächlich waren es eher zwanzig Minuten. Sie wohnte fast auf der anderen Seite des weitflächigen Krankenhausgeländes. Aber er hatte versichert, dass es sich nicht um mehr als fünf handelte. Und tatsächlich war sie es, die ihn begleitete. Sie fuhren drei Stationen mit der Straßenbahn und spazierten, oder torkelten vielmehr (auch sie hatte gehörig getrunken), den Rest des Weges. Als sie bei einem Lebensmittelladen, nur drei Blocks von Daniels Wohnung entfernt, vorbeikamen, mussten sie einen Umweg machen. Auf dem Bürgersteig ihrer Straße stand ein Rettungsfahrzeug. Blaulicht rollte in hohem Tempo über die Gebäudefassaden. Vor der Auslage des Geschäftes wurde ein Obdachloser, der im Eingangsbereich ein Lager aufgeschlagen hatte, versorgt. Nicht weiter ungewöhnlich. Als sie vorbei waren und gerade um die Ecke biegen wollten, gab es ein grässliches Schreien. Ein Brüllen schallte durch die Straße, das Daniel bis in die Knochen fuhr. Krampfhaft versuchte er seinen Blick zu kontrollieren, aber alles wirkte verzerrt und ultrascharf zugleich. Unecht und grell, obwohl es Nacht war. Endlich war er im Stande halbwegs geradeaus zu schauen. Und was er sah, ließ ihn erschauern. Ein Sanitäter kniete am Bordstein und hielt sich die blutende Wange. Daneben rannte jetzt der Obdachlose, irgendwie auf die Beine gekommen, über die Straße, knallte gegen ein parkendes Auto und raffte sich wieder auf. Dann übergab er sich in einem nicht enden wollenden Schwall. Als hätte er Cola mit Menthos geschluckt, dachte Daniel. Er wusste nicht, wie lang er zugesehen hatte, aber als er einmal geblinzelt hatte, waren zwei weitere Rettungswagen und eine Polizeistreife da und versperrten die gesamte Straße. Der Obdachlose lag auf einer Trage festgezurrt und der blutende Sanitäter wurde gerade in ein Fahrzeug gehievt. Als er es Bianca mitteilen wollte, stellte er fest, dass sie an einer Hausfassade hockend eingeschlafen war. Irgendwie bekam er sie munter und sie torkelten, während ein paar Wintervögel eines kleinen Stadtparks den Morgen einzwitscherten, nach Hause. Zu ihr. 

 

©JD Alexander 2017